Geschichten


Eine schöne Bescherung
© Denise Kellner

Bei Müllers war schon morgens am heiligen Abend schöne Bescherung! Warum das so war, wusste der Dackel "Karli" am Besten zu berichten. Er hatte schließlich von unten alles beobachtet. Also von unten, - das ist bei Dackel Karli Müller unter dem Tisch. Da musste er immer sitzen, wenn Vater Ferdinand Müller seine wohlverdiente Feierabendruhe genießen wollte, oder wenn Tante Friedelgard kam. Doch die kam nur zu Weihnachten und Feierabend hatte Papa dann doch öfter! Mindestens aber 5 mal die Woche.
Ja, Familie Müller war schon eine recht normale Familie. Papa Müller ging arbeiten, die Kinder Hannes und Janne gingen in die dritte und zweite Klasse und Mama Müller war eben Mama Müller.

Doch an diesem einen heiligen Abend, der eigentlich noch der Morgen von heilig Abend war, sollte alles anders werden.
Der Tannenbaum sollte noch geholt und die Tante Friedelgard zum Besuch erwartet werden. Friedelgard kam wie gesagt, jedes Jahr zu Weihnachten, trug immer dasselbe festliche Weihnachtskleid und schenkte immer dieselben Geschenke.
Hannes bekam ein gutes Buch.
"Damit der Junge auch was lernt", kommentierte sie jedesmal mit hochgezogenen Augenbrauen und angespannten Lippen.
Janne bekam, wie jedes Jahr eine von den Puppen, die Tante Friedelgard selbst strickte, Vater Ferdinand einen Schal aus den Resten der Wolle für die Puppe und Mutter Iris Topflappen, - die waren immerhin aus anderer Wolle. Karli vergaß sie jedes Jahr aufs Neue und konnte sich immer kaum beruhigen, wenn ihr wieder einmal auffiel, dass die Familie sich ja einen Hund zugelegt hatte:

"Ach herrjeh!", sagte sie dann immer.
Und nochmal "Ach herrjeh! Ich wusste ja gar nicht, dass ihr Viehzeug haltet." Dann rümpfte sie die Nase und guckte irgendwie ängstlich auf den mit dem Schwanz wedelnden, erwartungsvoll dreinblickenden Karli nieder.

"Aber Tante Friedelgard!", versuchte Mutter sie zu beschwichtigen, während sie ihr den Arm um die Schultern legte.
"Karli haben wir doch nun schon drei Jahre bei uns. So langsam solltest du dich doch mal an ihn erinnern."

Doch dann musste Karli meist unter den Tisch. Dort musste er neben Papas Füssen sitzen. Denn Tante Friedelgard hatte wahnsinnige Angst vor Karli. Wenn sie dann ihren Kaffee schlürfte, vergewisserte sie sich stets, dass Karli auch wirklich unter dem Tisch saß. Jedesmal, wenn sie unter den Tisch guckte, freute sich Karli, denn er dachte so bei sich, wie sie so guckte, dass er nun wohl auch ein Weihnachtsgeschenk bekommen würde. Oder vielleicht wollte Tante Friedelgard ja auch einfach mit ihm spielen! Doch Tante Friedelgard gefiel das gar nicht.

Papa war gerade dabei davon zu erzählen, wie er mit Hannes das selbstgebaute Flugzeug letzten Sommer im Wald hat fliegen lassen, als Tante Friedelgard ihm angstvoll zu wisperte: "Es wedelt schon wieder!"
"Nein, es fliegt!", sagte Papa langsam und um zu bekräftigen, was er meinte fügte er hinzu: "Mit Motor!"Ja, das war Papa Müller,der Tante Friedelgards Angst ganz vergessen hatte.

Doch dann kam zum Glück Mama mit den Keksen und Karli musste nach draußen. Zum Glück für Tante Friedelgard. Vielleicht auch zum Glück für Karli.

Jedenfalls war es also Zeit für den Weihnachtsbaum und Tante Friedelgard. Papa wollte, wie jedes Jahr Hannes und Janne im Auto mitnehmen. Zuerst würden sie, wie immer zum Markt fahren und einen schönen Baum aussuchen. Dann zum Bahnhof, um Tante Friedelgard abzuholen.
Papa klemmte gerade den Anhänger an das Auto, als Mama aus dem Haus gestürmt kam und rief:
"Sie kommt früher heute. Um 12:05 Uhr ist der Zug da. Schafft ihr das rechtzeitig?"

"Ja, das schaffen wir schon", murmelte Papa, der gerade die letzte Schraube in die Verankerung einsetzte. "Los, steigt ein, Kinder. Wir können fahren."
Kurze Zeit später befanden sich Papa, Janne, Hannes und! Karli Müller im Auto auf den Weg zum Markt.

"Wer hat denn den Hund mitgenommen?", fragte Papa auf einmal ziemlich düster in den Rückspiegel blickend.
Keiner antwortete. Nicht einmal Karli. Alle sahen unschuldig aus den Fenstern und taten so, als hätten sie Papa nicht gehört. Auch Karli sah aus dem Fenster.
Papa runzelte die Stirn: "Ihr wisst doch, dass Tante Friedelgard keine Hunde mag!"

Doch die war geradewegs vergessen, als sie auf dem großen Platz standen, wo eigentlich hätten all die Tannenbäume stehen sollen. Normalerweise standen hier jedes Jahr Bäume aller Größen. Dicke, dünne, lange und kurze. Heute aber waren hier nur noch kleine Bäumchen zu finden, die vielleicht so groß waren wie Karli. Naja, vielleicht ein bißchen größer.

Jedenfalls klappte Papa die Kinnlade herunter und er schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können, als er nach dem Verkäufer rief. Karli konnte sich auch kaum noch beruhigen, da Papa so aufgeregt war. So lief er mindestens genauso aufgeregt wie Papa, vor Papas Füßen hin und her, kläffte und wedelte mit dem Schwanz. Ja, der Hund kann tatsächlich alles gleichzeitig. Sogar unseren Papa ein Bein stellen. Das tat er in diesem Moment, als Papa über ihn stolperte und dem Tannenbaumverkäufer direkt in die Arme fiel.
Selbiger geriet auch gleich aus dem Gewicht und einen kurzen Moment lang wirkte es tatsächlich so, als würden Papa und der Verkäufer, der ein bißchen aussah wie der Weihnachtsmann zusammen den Walzer zu tanzen. Nach geraumer Zeit konnten sie sich jedoch fangen und peinlich berührt zupfte sich Papa an der Jacke und der Verkäufer am Bart herum. Karli wedelte und kläffte immer noch aufgeregt. Hannes und Janne sahen mit großen Augen zu.
Papa räusperte sich und fragte mit verzweifeltem Blick:
"Das hier...," er deutete auf die -nicht viel größer als Karli Bäumchen-, "sind das alle?"
"Bäume meinen Sie?", gab der Verkäufer zurück. "Nunja," er bewegte den Kopf hin und her und schürzte ein wenig die Lippen. "Hätt` ich selbst nicht gedacht, aber die Leute haben wirklich gut gekauft dieses Jahr."

Jeder merkte wohl, dass Papa die Tränen in die Augen stiegen. Alles schwieg. Auch Karli kläffte und wedelte nicht mehr wild herum, sondern starrte verträumt auf die -nicht viel größer als Karli Bäumchen-, so als würde er meinen
"Dann nehmen wir halt einen davon!"
Papa berappelte sich nach ein paar Minuten des andächtigen Schweigens und schaute auf seine Uhr. Wieder runzelte er die Stirn:
"Wie spät ist es?", fragte er mehr sich selbst, doch der Verkäufer antwortete: "Es ist jetzt genau 11:45 Uhr".
"Verflixt! Auch auf die Uhr ist kein Verlass mehr!", entfuhr es Papa und Karli entfuhr ein Jaulen, als würde er Papa beipflichten wollen. Papa schimpfte, Karli jaulte. Karli Jaulte und Papa schimpfte. Denn da fiel es auch Papa wieder ein und er fragte noch einmal: "Wer hat den Hund mitgenommen? Jetzt müssen wir noch eine Friedelgard kaufen und Tante Baum vom Bahnhof abholen! Und es ist schon viertel vor zwölf!"

Hannes gluckste und Janne hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Ja, das war schon etwas anderes, als Feierabend und Karli unter dem Tisch! Hier ging es um den Ernst des Lebens, praktisch um die Rettung des friedlichen Weihnachtsfestes!
Nach der Beschau von vielen "nicht viel größer als Karli Bäumen" hat Papa dann den Verkäufer dazu überreden können die Dekotanne abzukaufen. Die war wesentlich größer als die ganzen "nicht viel größer als Karli-Bäume". Sehr wesentlich.

"Man gut, dass ich den Hänger mitgenommen habe", strahlte Papa glücksselig, als sie zu zweit den mindestens "fünfzig mal so groß wie Karli-Baum" auf den Anhänger luden.

Gut festgebunden schafften sie es sogar noch rechtzeitig zum Bahnhof. Naja, eigentlich waren sie schon rechtzeitig, denn es war genau 12:06 Uhr. Tante Friedelgard jedoch stand mißbilligend drein schauend in ihrem typischen Weihnachtskleid mit ihrem typischen Weihnachtsmantel und den typischen Weihnachtskoffern wartend auf dem Bahnsteig.

"Tante Friedelgard", rief Papa überschwenglich. Doch die blieb fast regungslos und sagte schmallippig knapp:
"Du kommst zu spät!"
"Ja," antwortete Papa entschuldigend, "das ist doch nur wegen der Uhr gewesen, die ich noch kaufen musste und der Baum ist stehen geblieben?"
Tante Friedelgard ließ sich kaum von Papas hilfesuchenden Worten beeindrucken und sagte ebenso knapp wie zuvor: "Egal, fahren wir. Hauptsache ihr habt euer Viehzeug in einen Stall gesperrt!"
Da fiel es ihm wieder ein. Hannes und Janne auch. Hannes pfiff "Oh, du fröhliche" und schaute Richtung Auto. Janne zwirbelte an ihren Haaren und Papa spielte an der kaputten Uhr herum und sagte beiläufig:

"Nee nee, Iris ist zu Hause geblieben. Aber Karli ist mitgekommen."
Und als hätte er seinen Namen vernommen, hörten sie ihn schon aus dem Auto kläffen. Tante Friedelgard hörte ihn nicht nur kläffen, nein! Sie hörte ihn sogar wedeln. Aber die hörte auch das Gras wachsen!
Dann schnappte sie erst nach Luft.., fechelte sich mit ihren Handschuhen welche zu und hörte sich an, als würde sie von einem Marathonlauf endlich zum Stehen kommen, bevor sie mit großen Augen mit zittrigen Fingern auf den kleinen, wedelnden Karli deutete:
"Du ... hast...d-d-das Viehzeug mitgebracht!"
Verlegen kratzte sich Papa am Kopf und versuchte ein schiefes Lächeln:
"Das war ich nicht. Aber jetzt ist er nunmal da."

 


Tante Friedelgard jedoch wollte weiterhin nicht, dass das Viehzeug da war und schon gar nicht wollte sie damit im Auto sitzen. Hannes hatte zwischendurch die glorreiche Idee, den Tannenbaum ins Auto zu laden und statt derer die Tante Friedelgard auf den Hänger zu binden. Doch dafür fing er sich einen bösen Blick von Papa Müller ein und ein entrüstetes "Was für eine Erziehung" von Tante Friedelgard. Da diese sich überhaupt nicht beruhigen konnte und nachhaltig weigerte in das vom "Monster" besetzte Auto zu steigen, entschied Papa Müller eben Karli mit auf den Hänger zu setzen. Tante Friedelgard packte dafür sogar eigenhändig den liebevoll verpackten Schal aus, den sie für Papa gestrickt hatte, um das Viehzeug wenigstens anstandsgemäß auf dem Hänger festzuleinen.

Somit gab es ein reichlich komisches Bild ab, als sie den kleinen verschneiten Weg hinauffuhren, der zum Hause Müller führte. Eine schimpfende Tante Friedelgard auf dem Beifahrersitz, ein genervter Papa Müller am Steuer, ein augenrollender Hannes und eine kichernde Janne auf den Rücksitzen. Der riesige Tannenbaum und ein jaulender Karli mit rotem Schal um den Hals obenauf.
Wie sie den Weihnachtsbaum dann ins Haus gebracht haben, ob Tante Friedelgard mit dem Monsterviehzeug doch noch Frieden geschlossen hatte und was Papa Müller dazu sagte und Karli jaulte, das ist wieder eine andere Geschichte.

 

 

(geschrieben für die 3. Klasse Grundschule Emmerthal zur Weihnachtsfeier 2010 - und vorgetragen ;-) )



Der kleine traurige Engel
©Denise Kellner

Es war einmal vor langer Zeit im Himmel zur Weihnachtszeit.
Hoch droben klangen die Harfen und die goldenen Geigen stimmten zu fröhlicher Musik und die Engel, die Kleinen, die, mit den goldenen Haaren und den roten Schleifchen tanzten dazu.

Nur ein Engel tanzte nicht mit.
Es war Luthien, er hatte einfach aufgehört zu tanzen.
Sein Herz war ihm schwer und es wollte in ihm keine rechte Freude aufkommen.
So saß er dort am heiligen Abend, und genauso auch am ersten und am zweiten Weihnachtstag.

Irgendwann beschloss er, einfach aufzustehen und zur Erde hinunter zu schweben, um zu sehen, ob dort vielleicht etwas zu finden sei, was ihm Freude bereiten könne.
Er flog zu einem kleinen windschiefen Häuschen mit rotem Dach und hell erleuchteten Fenstern, durch die man, wenn man hin durchsah, eine kleine, gemütliche Stube sehen konnte.
In einem Schaukelstuhl saß ein Mütterchen, das strickte rote Strümpfe. Die waren so klein, dass sie wohl für ein Kind sein mussten.
Eine Weile sah Luthien dem lustigen Spiel der beiden flink arbeitenden Geräte zu, dann blickte das Mütterchen hoch und ihm geradewegs in die Augen. Erschrocken duckte sich Luthien hinunter, doch es war schon zu spät. Das Mütterchen hatte ihn bereits erblickt und das Fenster öffnete sich:

"Komm doch herein, Luthien! Ich habe dich schon erwartet!"

Erstaunt darüber, dass das Mütterchen seinen Namen zu kennen schien, tapste Luthien völlig verwirrt und ein wenig unbeholfen durch das Fenster hinein, direkt in die gute Stube.
Auf dem Herd stand ein schwarzer Topf. Aus dem Topf dampfte in weißem Nebel ein Geruch heraus, der an Käse, Lauch und gutem Gewürz erinnerte.
"Hast du Hunger, Luthien? Du bist ja wirklich weit gereist. Komm setz dich doch und ich gebe dir etwas von meiner Suppe und meinem Brot!", sprach das Mütterchen und drückte Luthien in den kleinen hölzernen Stuhl an den runden Tisch.
Nachdem Luthien sich satt gegessen hatte, sagte das Mütterchen:
"Luthien, es ist spät. Und auch kleine Engel brauchen ihren Schlaf. Komm, dein Bett steht direkt Meinem gegenüber!"

Luthiens Augen wollten an Rundungen nicht abnehmen, als er sah, dass sogar sein Name in die Bettdecke eingestickt war - in roter Schrift stand dort liebevoll geschrieben:
"Für Luthien, meinem Engel!"

Er schlief gut in dem kleinen Bett.

Es roch nach frischen Blumen, als er aufwachte und sich streckte.
Das Mütterchen stand lächelnd vor seinem Bett und streckte ihm die Hand entgegen:
"Luthien, mein Engel!", sagte sie.
"Gefällt es dir bei mir? Möchtest du nicht bei mir bleiben?.... Für immer?"
Luthien schaute, wie kleine Engel schauen, wenn sie verlegen sind und sagte:
"Ja, es ist sehr schön hier und das will ich wohl tun! Ich werde bei dir bleiben, mein Mütterchen!"
Die Alte lachte und sagte:
"Ich bin nicht dein Mütterchen. Ich bin deine Frau!"
Da erschrak Luthien aber sehr. Diese alte Frau sollte seine Frau sein und er wollte schon gehen, doch das Mütterchen hielt ihm am Arm gepackt und sagte:
"Bitte bleib! Wenn du nach drei Tagen immer noch sagst, dass ich nicht deine Frau bin, so lasse ich dich gehen und sehe dich nie und nimmermehr!"
Luthien sah die Verzweiflung der Alten aus ihren müden Augen und betroffen nickte er stumm.
Am nächsten Tag war Frühling und die Alte bat Luthien mit ihr Blumen auf der Wiese zu pflücken.
Als sie auf der Wiese waren und schon einen schönen Strauss bunter Glockenblumen beisammen hatten, setzten sie sich auf die Wiese, Luthien band dem Mütterchen einen Kranz für den Kopf aus Gänseblümchen, während die Alte von ihren Tagen als junges Mädchen erzählte. Luthien hörte aus den Erzählungen die Lebendigkeit heraus und vor seinen Augen entstand ein Bild von einem jungen, hübschen, quirligem Mädchen mit langem, blondem Haar.
Am Abend in dem kleinen windschiefen Häuschen, fragte die Alte:
"Nun Luthien. Wer bin ich?"
"Du bist ein altes Mütterchen!", antwortete Luthien beschämt. Doch die Alte lachte und sagte:
"Das bin ich nicht. Ich bin deine Frau!"

Am darauffolgendem Tag war Sommer und sie gingen zum Bade in den Wald an einem See.
Die Alte zog sich aus und nichts als blanke Haut war zu sehen. Luthien blickte beschämt zu Boden, doch als er einmal doch verstohlen hoch schaute, erwischte er einen Moment, wo die Sonne ihn wohl täuschte und ein zarter, schlanker Mädchenkörper, wie er schöner nicht hätte sein können umspielte dieses einzigartige Licht. Nach ein paar Sekunden jedoch war dieses Lichterspiel vorbei und nur der Körper einer alten Frau war wieder zu erkennen.
Auch an diesem Abend fragte das Mütterchen Luthien wieder, wer sie sei. Und abermals antwortete Luthien, sie sei ein altes Mütterchen.

Tags darauf zogen sie wieder in den Wald. Es war Herbst. Sie suchten zusammen nach Pilzen und bunten Blättern und irgendwann entstand zwischen den beiden ein schönes Spiel. Sie lachten und suchten und versteckten sich, spielten Fangen und waren zusammen einfach nur fröhlich.
Auch an diesem Abend fragte das Mütterchen Luthien danach, wer sie sei.
Abermals gab Luthien zur Antwort, dass sie nicht mehr als ein altes Mütterchen sei.
Traurig sah ihn die Alte an.
"Nun", sagte sie. "Dann musst du wohl nach Hause gehen, Luthien!"
"Nach Hause?", fragte Luthien erschrocken. "Aber hier bei dir ist doch mein Zuhause!"
"Nein!", erwiderte die Alte barsch. "Drei Tage hattest du Zeit. Mehr wurde uns nicht gegeben und nun musst du nach Hause in den Himmel und siehst mich nimmermehr!"

Plötzlich war das kleine windschiefe Häuschen, mit dem warmen anheimelnden Stübchen und der liebevollen Alten verschwunden und Luthien saß wieder zu Hause im Himmel. Dort, wo die anderen kleinen Engel fröhlich ihr Lied sangen, tanzten und musizierten.
Nun war Luthien noch trauriger als vorher und wollte zurück zu seiner Alten. Doch der Weg zur Erde blieb ihm ab dieser Zeit versperrt und er fand nie mehr dorthin zurück.


So saß er dort lange Jahre. Jahrein, jahraus und es blieb immer Herbst. Jedes Jahr war Herbst.
Nach 2000 Jahren voller Traurigkeit brach plötzlich der Himmel auf und es begann zu schneien.
Dicke, weiße Flocken fielen auf die Erde hinab und das Tor zur Erde öffnete sich..
Luthien klopfte sein kleines Herz und er traute sich kaum, eine Hand durch das Tor zu schieben, aus lauter Angst, es könne sich wieder verschließen.
Nach einer Weile, fasste er sich und schloss die Augen. Wild entschlossen sprang er durch das Tor hindurch und ....


er flog!

Er flog durch die Wolken, an den zarten Strahlen der Wintersonne vorbei. Über Felder und schneebedeckte Wälder...

Nach dreimal einer Woche, er wollte schon fast aufgeben, da sah er sie.
Eine kleine windschiefe Hütte, aus dessen Schornstein der Rauch drang.
Mit wild klopfendem Herzen flog Luthien in Windeseile zu dem kleinen Fenster hinab und schaute hindurch.
Doch als er hineinsah, war die Hütte leer. Der Tisch voller Staub und die Ecken voller Spinnenweben.
Er sah sich im Garten um und entdeckte ein kleines Grab. Dort stand ein feiner Stein, schon ziemlich alt und Moos bewachsen.
Vorsichtig kratzte Luthien das Moos ab und las mit zitternden Lippen:

"Für meinen Engel, Luthien! Mein Herz gehört dir!"

Da begann Luthien zu weinen. Er weinte tausend Tränen und wollte gar nicht wieder aufhören. Und wie er so hockte, zwischen den wilden Rosen und dem alten Grab, da flog ein Vogel hinab zu ihm.
Der Vogel war schwarz und krächzte leise:
"Luthien, wer liegt denn in diesem alten Grab? Ist es eine Alte, so werde ich sie fressen!"

"Das wirst du nicht tun, du alter Vogel!", schrie Luthien aus wildem Entsetzen und blind vor Tränen schlug er um sich nach dem Vogel.
"In dem Grab liegt meine liebe Frau!", dann brach er wieder zusammen und liess von dem Vogel ab.
Der aber flog davon und als er am Himmel nicht mehr zu sehen war, begann die Erde unter Luthien´s Füssen sich zu regen.
Die wilden Rosen begannen zu blühen und ihr Duft war schöner, als der Geruch vom Anbruch des Tages. Durch einen Tränenschleier hindurch sah Luthien auf. Der alte Stein war verschwunden. Eiligst lief er nun zum Häuschen und blickte hinein.
Der Staub war verschwunden und die Spinnenweben auch. Doch die Alte war nirgends zusehen. So sehr er sich auch am Fensterchen reckte und streckte.

"Luthien!? Wer bin ich?", klang es da hinter ihm, glockenhell.
Wie versteinert blicb Luthien stehen und während er sagte:

"Du bist es! Du bist meine liebe Frau!", und sich umwand, sah er einen wunderschönen Mädchenkörper und ein liebliches Gesicht mit langem blonden Haar.
In ihren Händen hielt sie das paar fertig gestrickte rote Strümpfe...

 

(aus dem Jahr 2008)

 


Die Elfenvölker

©Ravena

 

Des Nachts bei den klaren Seen, dort wo die Weiden ausschlagen, da sieht man ein Volk kleiner Geschöpfe. Zart und feingliedrig waren ihre Körper, nicht mal eine Menschenhand groß. Zart und fein waren auch ihre Schwingen, mit denen sie Tag für Tag zu den Fenstern der Menschen flogen, um deren Herzenswünsche und ihren Kummer zu belauschen. Sie sammelten der Menschen Wünsche und Wehklagen ein, um diese in der Mitte des Sees gegen feine Gaben, Speis und Trank mit der Seefrau zu tauschen. Die Seefrau nämlich hatte ihren größten Spaß und ihre helle Freud, wenn sich gar ein Menschenherz verstimmte und es war ihr ein Liebsal, konnte sie der Menschen ein Kreuz durch deren Herzenswunsch schlagen.

So ging es über viele Jahre.

Eines Tages jedoch zerstörte eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Buben die Ruhe der Natur. Die Seefrau rief die Elfen beisammen. Vernichten wollte sie den heimelnden Frieden, ja und sei es, dass es einem der Menschen das Leben koste.

Gesagt, getan. Aranel, die jüngste weibliche Elfe sollte Vertrauen zu den Kindern fassen und diese ihr Trübsal und Wunsch entlocken. Somit sollte sie den Monatsvorrat des Volkes und sich selbst den Elfenorden sichern.

Aranel beobachtete die Kinder drei Tage lang. Sie sahen so hübsch aus. Der Junge mit dem blonden Haar und den blauen Augen und das Mädchen mit den zwei langen, geflochtenen Zöpfen. Und es war weit und breit kein Unfrieden auszumachen. Jeden Abend musste Aranel hinaus auf den See, um der Seefrau davon zu berichten, wie weit sie wohl in ihrem Vorhaben gekommen sei. Doch Aranel sank jedesmal beschämt den Kopf und ließ zaghaft verlauten: "Nichts habe ich erfahren können, werte Frau! Doch morgen, morgen da will ich sehen, wo ich die Herzen stehlen kann!" Die Seefrau wurde jeden Tag unzufriedener, zudem fehlte ihr das Unglück der Menschen, mit dem sie sich am Leben erhielt. Am dritten Abend jedoch, als Aranel wieder sprach: "Nichts habe ich erfahren können...", da schlug sie mit ihrem Stab über das Wasser, sodaß sich Wellen wie auf einem Meer aufbrausten. "Sterben sollen sie!Und kommst du morgen ohne Nachricht eines gebrochenen Herzens hierher, so sollst du Hunger und Armut erleiden. Und mit dir wird dein Volk untergehen!"

Erschrocken wich Aranel zurück. Doch der böse Ausspruch der Alten hatte seine Wirkung nicht verfehlt und im Stocke der Weiden da raunten die anderen Elfen und straften Aranel mit finsterem Blick. Der Vater sprach ihr zu: "Aranel, willst du nicht gehorchen, so werde ich mich mühen und der Seefrau zwei gebrochene Herzen bringen!" Tränen rollten der kleinen Elfe die Wangen herab. Mit einem Bund an Proviant legte sie sich unter einem Baum auf die Lauer. Mißmutig betrachtete sie die beiden Kinder. Die aber tollten fröhlich herum. Weder sahen sie die kleine Elfe, noch ahnten sie von dem hinterhältigem Vorhaben. Und wie sie so lustig sprangen und sangen, da wurde es Aranel warm ums Herz. Nein, sie konnte nicht gehorchen und der Seefrau den Wunsch erfüllen. Sollte ihr Vater sie doch hinfort schicken. Dann wäre sie wohl allein und würde wohl sterben, aber ihr Herz bliebe rein von Schuld und Ungemach. Seufzend stand sie auf und blickte zurück auf das Heim ihres Vaters, zurück auf die Welt des kleinen Volkes. Nimmermehr würde sie die Augen ihrer liebenden Mutter betrachten können und nimmermehr mit den Schwestern über die Seerosen tanzen. (Dies ist bei den Elfen nämlich das beglückenste Spiel). Doch sollten derhalben zwei Menschenkinder sterben, um das Leid der Eltern zurückzulassen? Nein, Aranel hatte sich entschieden. Und wie sie so ging, da fasste ihr ein kleiner Elf an die Hand. Rin war sein Name und stammte aus dem Volke der Anderen. "Du hast mit dem Herzen entschieden und das allein wird gewogen sein. Es hat so laut gerufen, dass es mich aus dem Schlaf gerissen hat. Komm! Geh fortan mit uns. Denn wir sind der Menschen Freund und sinnen danach, ihnen das Gute zu bringen!"

Da ging die Elfe mit ihm und ward am alten Weidenbau nimmermehr gesehen. Doch dort, wo ein Zauber geschieht, wo kleine Menschen, wie du einen Wunsch tun und er wird erfüllt, da sei dir gewiss, hat Aranel ihr Werk getan.

 



Die Wünsche der Menschen

©Ravena

 

"Mit jedem Baum wächst eine neue Welt", sagte die alte Großmutter, deren Augen schon so lange getrübt waren, dass sie das, was sie in den Händen hielt nur erfühlen konnte.

 

Die Alte lächelte milde, als sie fühlte, wie die kleine Grit ihre Augen und ihren Mund erstaunt öffnete:

"Was für eine neue Welt, Großmutter? Wir haben doch nur die eine!"

Die Teetasse zitterte ein wenig, als die runzligen Hände nach dem Unterstand des Tisches suchten. "Schließ deine Augen, Grit und dann sag du mir, was du siehst!"

Grit tat, wie ihr geheißen. Doch nach ein paar Sekunden starrte sie enttäuscht die Großmutter an.

"Was ist?", fragte die Alte sie.

"Nichts ist! Ich sehe nur schwarz!"

Gurgelndes, zurückhaltendes Lachen drang aus der gealterten Stimme.

"Du lachst mich aus!", schimpfte Grit beinahe.

"Oh, bewahre! Als ich so ein junges Mädchen war, die du es bist, sagten mir die Erwachsenen oft "Klara - mach die Augen zu, dann weißt du, was dir gehört. Viele male habe ich sie dafür gehasst. Wussten sie doch nicht, was sie daher sagten. Doch aus einer anderen Sicht betrachtet, kann man schon erkennen, was einem gehört." Die Großmutter wartete einen Moment, bevor sie wieder ansetzte: "Was denkst du, was ich sehe?"

Die Kleine erschrak. So unverschämt wollte sie die Frage nun doch nicht beantworten. Leichte Röte stieg ihr die Wangen hoch.

"Du wirst ja rot!", schmunzelte die Alte, bevor sie fortfuhr "Kind, sprich es aus. Wer selbst die Wahrheit sagt, wird auch die Wahrheit finden!"

Grit war es nicht wirklich gut zumute. Doch woher wußte die Großmutter, dass sie errötete? War sie doch blind..., oder war sie es doch nicht?

"Nun?", bohrte die Alte, nicht locker lassend weiter.

Unruhig rutschte Grit auf ihrem kleinen Stuhl hin und her, bevor sie leise antwortete: "Die Wahrheit ist, dass du eigentlich nichts sehen kannst!"

Schmunzelnd lehnte sich die Großmutter zurück und schloß die Augen. "Ich weiß, was du denkst! Ich höre es an dem Klang deiner Stimme!"

Beschämt schaute Grit zu Boden, dann sagte sie weiter: "Aber woher wusstest du, dass ich rot werde? Du hast es doch gar nicht sehen können!" -

"Ja, richtig. Ich habe es gefühlt und dann habe ich es gesehen!" Großmutter Klara hielt eine weitere Pause, dann fragte sie leise: "Möchtest du nun wissen, warum mit jedem Baum eine neue Welt wächst?"

Grit hielt den Atem an, dann nickte sie. Die Großmutter erwiderte mit einem Lächeln die stille Antwort. "Schließ deine Augen noch einmal. Finde einen Baum. Deinen Baum! Dann warte, was geschieht!"

Nach einigen Minuten der schier endlosen, angespannten schwarzen Stille gelangte Grit in einen Hain. In der Mitte stand ein Baum. So groß wie sie selbst. Seine Äste wogen sich mit dem zarten Wind, der um ihn strich. Vorsichtig berührte sie die leuchtenden Blätter. Ein jedes sah anders aus. Manche hatten Löcher. Einige waren klein, die nächsten gelb und rot gefärbt. Wieder andere waren vertrocknet und lagen am Boden. An einem besonders schönen Blatt blieb ihr Blick haften. Vorsichtig berührte sie die schlanken Adern. Der Wind erhob sich erneut und plötzlich vernahm sie ein Wispern:

"Ich bin der Wunsch einer Mutter, die ihr Kind beschützen will"

Erschrocken zog Grit die Hand zurück. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Was war das? Erstaunt hoben sich die Augenbrauen. Doch die Neugier war zu groß. Wieder umfasste sie ein Blatt, es war ein wenig gelb. Erneut wog der Wind sanft und brachte das Wispern, welches raunte: "Ich bin der Wunsch der Erkenntnis"

Bedächtig fasste Grit ein Blatt nach dem anderen an. Viele offenbarten sich als Wünsche von Menschen. Dann fiel ihr Blick erneut auf den Boden. Dort lagen die braunen, fast schon vertrockneten Blätter herum. "Aber was seid ihr dann?", fragte sie leise als sie nach einem langte. Die Antwort brachte abermals der Wind. "Wir sind die vergessenen Wünsche. Die, die erfüllt sind und die, deren Träger die Hoffnung verloren."

 

Als sich eine Träne den Weg über die kühlen Wangen suchte, spürte sie eine vertraute Hand auf ihren Schultern. Mit dem Öffnen der Augen nickte Grit wissend:

"Mit jedem Baum wächst eine neue Welt. Und mit ihm dürfen die Wünsche der Menschen Wirklichkeit werden!"