Odins Reisen


Das lodernde Feuer
©Ravena

Odin blickte sorgenvoll auf seine beiden Raben. Munin lag in Schmerzen und Hugin in den Wehen. Welches Kind sollte da geboren werden? Der Erzeuger des Kindes war ihm kein Begriff und Munin schwieg sich aus, wohlgleich der Schmerzen, die ihn quälten und in einen verschwitzten Alptraum zwischen Wachen und Schlafen, Illusion und Durst brachten.

Das Feuer loderte heiß. Und so zog Odin es vor, den Hut weiter ins Gesicht zu ziehen, ohne den Blick aus denselbigen abzuwenden. Den Mantel zog er weiter um sich. Es fröstelte ihn, trotz der feurigen Glut.

Dann stand er auf, legte Hugin neben Munin auf ein mit Kräutern und Apfelschalen angerichtetes Bett. Er wollte den Meister des Gerichts aufsuchen, um in Erfahrung zu bringen, wer ihm das Kind untergebracht hätte und welchen Sinnes es ihm sein sollte, einen weiteren Raben zu empfangen.

So zog er fort. Den beiden Raben zuvor einen Zauber umlegend, dass die Zeit stillstünde und bei seiner Rückkehr Eingriff in das Rechte zu erwarten sei.


Im dunklen Wald
©Ravena
 

Die Nacht war sternenklar, der dunkle Wald trug einen sommerabendlich schweren Geruch vom Vortag. Trotz der eingetretenen Stille, wog das Leben, welches sich wenige Stunden noch in seiner vollen Größe gezeigt hatte größer.
In der Ferne jammerte ein Käuzchen.
Der alte Wanderer nahm all dies in voller Konzentration wahr, ohne seinen Blick von den inneren Gedanken zu wenden. An ihm besonders erscheinenden Stellen hielt er eine kurze Rast, stärkte sich mit dem Trank der Kraft und der Weissagung.

Die Reise würde lange dauern. Der dunkle Wald wurde nicht in Maßen, sondern in Zeit gemessen. Ihn zu durchwandern, erforderte oberstes Geschick, einem klaren, inneren Kompass und einem starken Willen, welcher das übermenschliche Maß an Durchhaltevermögen übertraf.
Jeder Winkel konnte hier in die Irre und damit zum sicheren Tod führen. Nach einem Tag Fußschritte, gelangte man hier an einem scheinbar selbigen Ausgangspunkt, welchen man vor der Reise angetreten hatte und durchwanderte diesen 21 mal - mit denselben Bäumen, denselben Geräuschen, denselben Tieren. Nichts Äußerliches verriet, ob man nun in einem Irrgarten, oder dem Ziel näher gelangend vorangetragen wurde.
Der dunkle Wald ist ein Ort des Selbstverlass oder des Selbstverließ.

Stumm sei der Wanderer und er trinke aus keiner sich ihm bietenden Quelle, noch reiße er hier ein Tier das Herz aus dem Leib, sonst sei er für immer verloren.

Odin selbst war diesen Wald erst einmal durchwandert und nun trug er noch schwerer, als an der Aufgabe vorangeganger Zeit. Sein Herz verriet ihm nichts außer Zorn und Ungemach. Also verdrängte er diese Gram und setzte auf seinen, durch den Zoll der Schwere, geschärften Verstand und die leerer werdende Flasche seines von der Sonne aufgewärmten Tranks.
Neunzehnmal war er nun schon gewandert, schneller als ein Mensch, schneller als der Falke im Flug, der Gepard auf der Erde und der schnellste Fisch aller Meere.
Zeit war hier zeitenlos, Ort war hier relativ und jeder Gedanke, jede Rast könnte dazu führen, der Reise ein jähes Ende zu setzen und den Wanderer im inneren des Waldes für alle Ewigkeiten zu bewahren.


An der alten Buche
©Ravena


An einer alten Buche hielt er inne. Die Lichtung hatte er nun schon 21 mal passiert. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann wäre diese Reise vorbei. Unbeholfen griff er in seinen Mantel, nach einer blauen Flasche. Er hielt sie gegen das Sonnenlicht und begutachtete den Inhalt. "Fast voll", dachte er bei sich und fuhr sich über die, mit Schweißperlen benetzte Stirn. Eine nach der anderen sammelte er in der blauen Flasche.

Er lehnte sich gegen den Stamm der Buche und schloß die Augen. Müdigkeit schien ihn übermannen zu wollen, doch er gestattete sich lediglich eine kurze Rast. Die Zunge klebte ihm schon am Gaumen fest und es dürstete ihn schrecklich. Für einen unbedarften Mann versprach die Lichtung einen gemütlichen Anhalt nach einem schönen Spaziergang. Wenn er es nicht besser wüsste. Viele Männer und Frauen hatte es schon das Leben gekostet. Langsam, wie er da so lehnte, ließ er das blaue Fläschchen zurück in den Mantel gleiten. Die Augen weiterhin fest verschlossen konzentrierte er sich darauf, alles um ihn herum dunkel werden zu lassen. Zuerst verdunkelte sich der Blick hinter den Lidern, dann verstummten die Vögel und nach und nach ließ auch die schier unerträgliche Hitze auf seiner Haut nach.
Zurück wollte er. Ein oder zwei Jahre. Es musste doch herauszufinden sein, was geschehen war. Der Nebel lichtete sich langsam und gab die Schneedecke unter seinen Füßen frei. Er befand sich in Midgard. Eine kleine Stadt, ein Jahr zuvor.
Leute rannten an ihm vorbei. Die meisten ignorierten ihn, so, wie er jämmerlich gekrümmt in einem zerschlissenen Mantel mit löcherigen Schuhen an der Straße hockte und seinen Hut, den Kopf gesenkt vorstreckte.
Die Kälte kroch abermals in ihm hoch und er spürte weder Zehen noch seine Finger, die zittrig den Hut hielten. Seine Nase war rotgefroren und an seinem Bart klebten Überreste von einer warmen Mahlzeit vom Vortag. Suppenküche nannte man das hier. Gestern hatte er nichts eingenommen. Ein junger Krieger, gutaussehend, aber vom Herzen schlecht hatte ihn sogar einen dreckigen, faulen Bastard genannt und ihn mit den Füßen getreten. Sein heißer Kaffee, gespendet von einer Frau, mittleren Alters purzelte dabei über die Straße. Zu wenig Kraft in den alten Gelenken. Zum Glück war er ein Gott und konnte das Ganze jederzeit beenden. Doch dafür war er nicht gekommen. Jedes Jahr zur kalten Zeit übernahm er seine Prüfungen in Midgard.
Mal hier, mal da. Mal in einem Dorf, doch meist in den größeren Städten. Dort waren die meisten Menschen zu treffen.
Mißbilligend stellte er fest, dass immer mehr der Menschen, selbst dieser kleinsten Prüfungen versagten.
Sie stellten sich taub, gaben sich blind und ja, mancher war blinder als ein Einäugiger Kauz. Dabei musste er unwillkürlich lachen.
"Guck mal, Papa! Der alte Mann erfriert ja!"
Ein kleiner Junge war es, der ihn davon überzeugte, dass nicht alle Herzen so gefroren waren, wie die weiße Decke der Holle. Ein kleiner Junge. Doch reichte dieses eine Menschenkind aus? Oder war er der Überbringer, ja sogar der Vorbote der schlechten Zeit, denen er und seinesgleichen entgegenblicken würden?
Sie hatten ihn mit zu sich nach Hause genommen. Er durfte ein warmes Bad nehmen, bei der Familie am Tisch essen und sie boten ihm sogar zur Nacht das Gästezimmer an. Das, wo es so herrlich gerochen hatte.
Zwei Tage blieb er. Fast zu lange. Der kleine Justus hätte ihn schon adoptiert, wenn er nicht vehement dagegen gesteuert hätte. Sogar die Eltern, und das überraschte ihn noch mehr, schienen sich, je mehr sie ihn kennenlernten, damit anfreunden zu können.
"Opa!", nannte man ihn hier. "Opa", er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und zog die rechte Augenbraue hoch. Nannte man auf Midgard so nicht die steinalten Menschen?
"Ich werde Dir einen Opa besorgen!", versprach der Alte noch beim Gehen, als Justus seine Hand nicht loslassen wollte. "Ich kann es nicht sein! Ich gehöre nicht hierher und ich muss noch etwas erledigen!"
Und dann wäre ihm fast das göttliche Herz stehen geblieben (insofern das ginge), als der Kleine ihm nachrief: "Schick mir Deine Raben!"

Mit einem Ruck holte sich Odin zurück in den dunklen Wald. Langsam taute der durchfrorene Körper in der sengenden Hitze wieder auf und vorsichtig bewegte er jedes einzelne Gliedmaß.
Er blinzelte der Sonne, die sich durch die Wipfel ragte entgegen. "Was wusste dieses Kind?", fragte er sich still.
Seufzend nahm er seinen Stock und richtete sich vollends auf. Ich werde es schon noch herausfinden, dachte er bei sich. Doch nun... nun war es Zeit den ersten Teil der Reise hinter sich zu lassen.